
Mit dem Fahrrad von Berlin zum Nordkap – ohne jegliche Erfahrung
Es ist die erste Fahrradtour überhaupt für Annie Voigt aus Berlin. Und dann gleich extrem. In 23 Tagen hat die 26-Jährige rund 3000 Kilometer bis zum Nordkap zurückgelegt. 2500 Kilometer davon auf ihrem Diamant, dem Trekking®-Rad Elan. Eine Reportage über grenzenlose Freude, Anfängerfehler und Tränen.
MIT ABSTAND DIE BESTE IDEE SEIT LANGEM
Mai 2019 in Berlin: Martha trocknet in der Kletterhallenumkleide ihre Haare, während ich nervös auf der Bank hin und her rutsche. Ich habe ihr gerade von meiner Idee erzählt, ans Nordkap zu fahren: mit null Vorbereitung, noch weniger Erfahrung im Solo-Radtouren-Absolvieren und mit einem von Natur aus desaströsem Orientierungssinn ausgestattet.
Ich habe ihr eventuell auch gerade gebeichtet, dass ich statt meinem eigenen Diamant-Rad lieber das neue Trekking®-Rad von meinem Ex klauen würde. Das macht spontan einen stabileren Eindruck, auch wenn ich das ausschließlich am Preisschild und seiner Hingabe zu dem Drahtesel, statt objektiven Fakten festmache.
„Du willst doch nicht sein geklautes Fahrrad auf all den Bildern mit drauf haben. Und am aller wenigsten auf dem Zielbild am Nordkap“, sagt Martha entsetzt.
„Also findest du die Idee selbst gar nicht mal so schlecht“, frage ich vorsichtig. Ich habe erwartet, dass sie mir die Idee mit dem Raddiebstahl ausredet, aber die Zustimmung für die Idee alleine ans Nordkap zu radeln kommt unerwartet.
„Das ist mit Abstand die beste Idee, die du seit langem hattest“. Verdammt. Nicht wirklich das, was ich von einer meiner besten Freunde hören wollte, aber wahrscheinlich mal wieder ganz genau das, was ich hören musste. Nur noch vier Tage bis es los geht. Vorfreude paart sich mit Muffensausen.
DIE ROUTE
Hier kannst du die Fahrradroute von Berlin zum Nordkap genauer unter die Lupe nehmen.

25 KILOGRAMM GEPÄCK
Drei Tage vor der Abreise google ich das erste Mal, ob irgendjemand anderes diese Reise überhaupt mal auf sich genommen hat. Ich bleibe am erstbesten Reiseblog kleben, kopiere mir die GPS Daten für die Routenberechnung raus und beende damit auch schon meine Routenvorbereitung. Zwei Tage vor Abfahrt laufe ich durch den Outdoor-Store meines Vertrauens und kaufe alles ein, was ich auf der Packliste des Reiseblogs gefunden habe. Einen Tag vorher buche ich ein Ticket für die Fähre von Rostock nach Schweden.

Obwohl sich meine Vorbereitungen am minimalistischsten Ansatz orientieren, stehen am Ende stolze 25 Kilogramm vor mir, verteilt auf drei Taschen. Die muss mein eigenes Trekking®-Rad ans Ende der Welt hieven. Denn abgesehen davon, dass ich doch kein viel zu großes Fahrrad klauen will, steht für mich nun fest: Ich will Red, mein eigenes Diamant Elan, am Nordkap stehen sehen.
DER AUFBRUCH
Der erste Tag läuft so schief, dass ich nicht sonderlich ins Detail gehen möchte. Kurz: mit einer pochenden und blutenden Beule auf der Stirn, aufgekratzten Händen und einigen Stunden Verspätung stehe ich endlich vor der Fähre am Rostocker Hafen. Ich schlängle mich mit meinem Rad vorsichtig an den wartenden Autos und LKWs vorbei und komme kurz vor der Fährenauffahrt zum Stehen. Der Wind pfeift, und obwohl es schon fast Mitte Mai ist, ist mir unsagbar kalt.
„Du weißt schon, dass es am Nordkap noch viel kälter ist?“ Der Mann der mich das fragt, winkt die hinter mir stehenden Autos in Richtung Fähreneinfahrt. Mich lässt er nicht vorbei. Langsam bekomme ich das Gefühl, dass er das hauptsächlich tut, weil er keine Ahnung hat, wie man mit Fahrradfahrern umgehen soll.
Ich entgegne ihm: „Ich weiß, ich bin darauf vorbereitet. Ich hab noch eine Daunenjacke dabei, die für arktische Expeditionen geeignet ist. Ich hab nur keine Lust, sie jetzt aus meinen Taschen heraus zu graben“, antworte ich. Immerhin könnte ich ja schon auf der warmen Fähre sein, wenn du mich vorbei lassen würdest, füge ich gedanklich hinzu.
„Mmh. Und wo ist überhaupt dein Freund? Oder bist du tatsächlich alleine unterwegs?“ Ich verdrehe meine Augen. „Ich brauche nicht die Erlaubnis eines Mannes um meinen eigenen Weg zu gehen.“ Kurze Pause, dann ein ironisches Grinsen: „Lässt du mich jetzt endlich auf die Fähre fahren?“ Der Mann muss lachen und winkt nun endlich auch mich in Richtung Fähre.
An Bord hilft mir ein russischer Motorradfahrer dabei, meine 25-Kilogramm-Taschen drei Mal ans falsche Ende des Schiffes zu tragen, bis wir endlich unsere gut versteckten Schlafwaben für die Nacht gefunden haben. Wenige Augenblicke später gleitet die Fähre langsam aus dem Hafen raus. Hejdå, Deutschland!

Der erste Tag in Schweden beginnt kurz nach Sonnenaufgang. Ich wache in meiner kalten Schlafwabe auf der Fähre auf, welche langsam in den Hafen gleitet. „BITTE BEGEBEN SIE SICH RICHTUNG AUSGANG“, schmettert es mir aus einer kleinen Sprechanlage direkt über meinem Kissen entgegen. Ich stopfe schnell meine Sachen zurück in die völlig überfüllten Taschen und schleppe sie zu meinem Rad. Anscheinend habe ich die laute Ansage sehr erfolgreich längere Zeit im Schlaf überhört, denn außer mir ist niemand mehr auf dem Parkplatz im Schiffsbauch. Die ersten Sonnenstrahlen scheinen ins Schiffsinnere. „Na los, los mit dir“, ruft mir einer der Fährenmitarbeiter zu. „Ich beeile mich ja“, murmle ich, während ich versuche alle Taschen auf meinem Fahrrad anzubringen.
Hinweis von Diamantrad:
Die Strecke zum Nordkap ist unglaublich schön – und lang. Du möchtest noch mehr unterschiedlich lange Strecken in Deutschland und Europa erkunden? Auf unserer Übersichtsseite zu Radreisen findest Du Radwege an der Nordsee, auf Korsika und mehr.
„WAS MACH ICH HIER EIGENTLICH“
Die Fahrt beginnt in Trelleborg. Loszufahren gestaltet sich anfangs echt wackelig, aber mal um mal gewöhne ich mich an das schwere Gepäck auf dem Rückträger. Noch nicht gewöhnt habe ich mich an die Klick Pedale, die ich mir für diesen Trip besorgt habe. Beim Versuch, noch in Trelleborg an einem Stoppschild anzuhalten, küsse ich (ungewollt) fast schwedischen Boden. Im letzten Moment löst sich dann doch noch einer der Schuhe und nur mein Rad macht nähere Bekanntschaft mit dem Asphalt. Das Einstellen der Auslösehärte vergesse ich sicher nicht noch einmal.
„Was mach ich hier eigentlich“, grummle ich leise vor mich hin. Ich werfe einen Blick zurück zur Fähre und möchte am liebsten wieder zurück. Aber da, wo ich gerade herkomme, wartet nichts auf mich, nur vollgepackte Umzugskartons in einer Wohnung, die sich leer, einsam und noch nicht wirklich nach Zuhause anfühlt. Außerdem kenne ich eine Freundin in Lund. Wenn ich schon mal in Schweden bin, kann ich also auch noch die 70 Kilometer bis zu ihr auf mich nehmen. Dann hat sich das ganze Theater zumindest ein bisschen gelohnt.
Die Autobahn ist zwar nicht der gemütlichste Ort für Radfahrer, aber da es noch sehr früh ist, bleibt der Verkehr entspannt. Eigentlich will ich nicht noch mehr schimpfen, als ich es nicht eh schon tue. Aber mein Hintern tut weh. Hätte ich wahrscheinlich mit rechnen können.
Ich rechne nicht mit der Masse an Essen, die mir einige Stunden später der Kellner in dem kleinen Café in Lund an den Tisch bringt. Meine Freundin Melinda hatte das Café explizit nach diesem Kriterium und unlimited Coffee-Refills ausgesucht. „Du kannst doch nicht jetzt schon umdrehen“, sagt sie zu mir, während ich mir die Backen mit Pfannkuchen vollstopfe. „Will ich ja auch nicht, eigentlich“. Melinda grinst: „Sag mir lieber, bis wohin du es heute mindestens schaffen willst“. Ein weiterer Bissen, dieses mal Joghurt mit Himbeeren, verschwindet in meinem Mund, bevor ich antworte: „Växjö.“ Sie lächelt mir zu. „Na dann!“
Annie war mit unserem Elan Trekking®-Rad unterwegs. Ein Fahrrad mit leichtem Aluminiumrahmen mit Touring-Geometrie. Am Anfang hatte Annie bedenken, ob nur ein Gepäckträger tatsächlich ausreicht. Heute sagt sie: „Ohne zusätzlichen Frontgepäckträger hatte ich weniger Gepäck als andere Radreisende und bin dadurch deutlich schneller vorangekommen“. Annie gibt ihrem Elan 10/10 Punkten.

ANFÄNGERFEHLER GEHÖREN DAZU
Wenn ich eins unterschätzt habe, dann ist es die Masse an Fahrtzeit, die ich täglich absolvieren muss, um mich an meinen Zeitplan zu halten. Der sieht nahezu 180 Kilometer pro Tag vor. Ruhetage habe ich erfolgreich vergessen einzuplanen. Im Nachhinein ein eindeutiger Anfängerfehler, aber so ganz durchdacht war diese Idee ja sowieso nicht. Züge kann man mit einem Fahrrad in Schweden eigentlich nicht nehmen, aber ich lerne schnell, dass die winzigen Regionalzüge da ab und zu eine Ausnahme machen. Bei der Streckenlänge, die diese kleinen Züge einem abnehmen, handelt es sich zwar nur um 50 bis 100 Kilometer (je nachdem wo man zusteigt), aber ich bin verzweifelt genug um jede Unterstützung anzunehmen. Denn ich hab ganz vergessen, dass ich bei längeren Radstrecken Probleme mit meinem Knie bekomme.
„Hilfe gibt es hier überall, wenn du welche brauchst! Und du solltest auch unbedingt bei Leuten an der Tür klopfen, und fragen, ob du in ihrem Garten schlafen
darfst. Das ist bestimmt viel sicherer für eine kleine Frau wie dich“, erzählt mir eine einheimische Pendlerin, der ich im Regio zwischen Hässleholm und Växjö ausreichend auffalle, um ungefragt hilfreiche Tipps zu bekommen. Dieser Tipp allein trägt mich durch Dutzende schwedische Gärten und Häuser, und damit mitten in das Leben der Bewohner. Von einem Pärchen, das mich in ihrer Tischlerwerkstatt schlafen lässt, zum Vorgarten eines Computer-Admins mit 5 Häusern in Umeå, und weiter auf die Terrasse eines Ice-Cream Truckers in Töre. Für eine Nacht in Korpilombolo darf ich (allein) in die Sauna, in der sich seit Jahrzehnten vier Geschwister jeden Tag verabreden, um dort gemeinsam Bier zu trinken. Und um gemeinsam zu saunieren, offensichtlich.
In 180 Kilometer-Häppchen, meist auf dem Rad und ab und zu in einem kleinen Regio, geht es immer weiter der Ostküste Schwedens entlang in Richtung Norden. Bis ich dann endlich die Grenze zu Finnland überquere.

VERZWEIFLUNG IN NORWEGEN
„GEH IN DIE BERGE, HABEN SIE GESAGT. DAS MACHT SPASS, HABEN SIE GESAGT. ABER DAS MACHT KEINEN SPASS!“
Keine Sorge. Ich schreie hier niemanden im Besonderen an, nur die Berge. Im Nachhinein bin ich froh, dass dieses Fluchen und Geschrei keine Lawine ausgelöst hat. Neben mir zwitschert ein Vogel. „HÖR AUF, DICH ÜBER MICH LUSTIG ZU MACHEN, DU… GEFIEDERTE EIDECHSE!“ Der Vogel hält für einen Moment inne, und scheint meine zugegebenermaßen flache Beleidigung kurz zu bedenken. Dann zwitschert er fröhlich weiter.
Ich bin in Norwegen angekommen. Den Tag vorher war ich in der Dusche eines verlassenen Campingplatzes in Skibotn aufgewacht, in der ich mich zum Schlafen zum Schutz vor der Kälte eingekugelt hatte. Ich hätte gerne auf dem Campingplatz eingecheckt, aber in der gesamten Zeit, die ich auf dem Platz verbracht habe, habe ich keinen einzigen Menschen gesehen.
Die Berge haben mir völlig den Kopf verdreht. Bombastisch ragen sie ihre schneebedeckten Gipfel gen Himmel, majestätischer als jeder Tempel, jede Kirche, jedes Schloss, was ich jemals gesehen habe. Allerdings reicht meine Faszination für die Gesteinsriesen nicht aus, sie nicht völlig hemmungslos anzuschreien, während ich auf dem Fahrrad versuche, die Höhenmeter zu überwinden.
Auf dem ersten Berg steht ein Schild: 440 Höhenmeter. Ein Pärchen, das mit dem Auto auf den Berg gefahren ist, wagt es tatsächlich zu kichern, während ich mich schwitzend an ihnen vorbei fluche. Sie sind in einem Auto. Ich hoffe, es bricht in einem Tal weit weg von der Zivilisation zusammen. „IRGENDWANN MUSS ES DOCH VORBEI SEIN“, schreie ich die Berge mit ihren Tausenden an Höhenmetern an. Und vorbei ist es dann plötzlich schneller als erwartet.
ZIEL ERREICHT

Tränen brennen in meinen Augen. Mein Grinsen ist breiter als der Längengrad auf dem ich mich befinde. Dort ist er. Der Nordkap-Globus. Er steht direkt vor mir, aufgestellt auf einer Betonplatttform, die Stahlbalken schwarz und im Hintergrund der blau-graue Himmel. Ich steige von meinem Rad ab und bin fassungslos, dass ich am Ziel angekommen bin. Ich hebe mein Rad auf die Plattform zum Globus hinauf, und es wiegt nichts, überhaupt nichts. Ich kann nicht aufhören zu grinsen.
Ein Pärchen kommt auf mich zu. Ich bitte sie, ein Foto für mich zu machen. Er nimmt mein Telefon. Mein Rad und ich, wir haben es geschafft. Ich bin erledigt, aber wahnsinnig happy. „Ein Bild einer Heldin würdig”, sagt der Mann und schießt das Foto, welches mich noch lange an diesen besonderen Moment erinnern wird.
DAS IST ANNIE
Annie liebt Experimente. Ihre erste Soloexpedition war eine Kajaktour, darauf folgte die Radtour zum Nordkap. Heute hat sie auch ihren ersten Ultramarathon über 1000 Kilometer hinter sich. Apropos Experimente: Annie ist gelernte Biochemikerin und promoviert in Neurowissenschaften.Hier erfährst du mehr!
